Ostberlin 1972
Die Männer saßen einander gegenüber am Schreibtisch im Vernehmungszimmer. Nervös rutschte Peter auf seinem Stuhl hin und her, er hatte das Gefühl als wenn die Blicke des Leutnants ihn durchbohren würden. Er wusste, dass der Leutnant von ihm erwartete, dass er endlich eine Aussage machen und Stellung zu der versuchten Flucht der vergangenen Woche beziehen würde. Peter hatte Angst, ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Er dachte an seine Frau und fragte sich, wo sie wohl gerade saß, ob sie auch vernommen wurde.
Der Leutnant räusperte sich und schaute ihn erwartungsvoll an. „Herr Sacher, wären Sie denn nun bitte so freundlich und würden mit mir sprechen. Wir wissen doch beide, weshalb Sie hier in meinem Büro sitzen. Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass es ihnen hilft, wenn Sie schweigen!“ Peter blickte nervös zu Boden. Das flaue Gefühl in der Magengegend wurde zunehmend stärker. Er wischte mit den schweißnassen Händen über seine Hose, dann begann er nervös mit den Fingern auf den Tisch zu klopfen. Eine ganze Weile starrte der Leutnant Peter Sacher durchbohrend an. Immer wieder ermahnte er ihn endlich eine Aussage zu machen. Peter konnte nicht. Mit den Worten „Glauben Sie nicht, dass Sie mit dieser Tour durchkommen“, wurde Peter vom Leutnant verabschiedet. Ein Aufseher betrat das Vernehmungszimmer und führte ihn zurück in seine Zelle.
Peter legte sich aufs Bett und starrte an die Decke. Tränen liefen Peter das Gesicht hinunter. Er vermisste seine Frau und seine Tochter. Die ganze Nacht lag er auf dem harten Bett seiner Zelle und grübelte darüber nach,
wie es weitergehen sollte. Er wusste, dass sie ihn am nächsten Tag wieder zur Vernehmung holen würden. Wenn er doch bloß mit seiner Frau sprechen könnte, dann wüsste er wenigsten was sie dachte, wie sie fühlte, ob sie weiterhin dafür kämpfen wollte in die BRD zu gelangen oder ob sie Angst bekommen hatte und bereits einen Rückzieher gemacht hatte.
Am nächsten Tag gegen Mittag wurde Peter erneut in das Vernehmungszimmer des Leutnants geführt. Er hatte die ganze Nacht über kein Auge zugemacht, nur gegrübelt. Er war müde, fühlte sich unendlich erschöpft. Die letzten Tage hatten stark an seinen Nerven gezehrt. „So schnell sieht man sich wieder“, sprach der Leutnant als Peter den Raum betrat und grinste ihn überlegen und siegessicher an. „Setzen Sie sich Herr Sacher. Ich hoffe Sie haben über ihr gestriges Verhalten nachgedacht und sind jetzt bereit auszusagen.“ Dann fügte er mit einem gemeinen Lächeln hinzu: „Sie wollen doch auch ihre Tochter wieder sehen, nicht wahr? Es ist alles ganz einfach, entweder Sie sind jetzt sofort bereit auszusagen oder sie werden ihre kleine Tochter lange, vielleicht nie mehr zu sehen bekommen!“ Peters Herz klopfte zunehmend schneller. Der Leutnant hatte ihn an seiner empfindlichsten Stelle getroffen. Seine Tochter war ihm unendlich wichtig. Letzten Endes hatte er auch für sie in die BRD gewollt, um ihr eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Peter hatte in all den letzten Tagen darüber nachgegrübelt, wohin man seine Tochter nach der Inhaftierung von ihm und seiner Frau wohl gebracht hatte. Vermutlich war sie nun in einem Kinderheim untergebracht. Allein der Gedanke daran stimmte ihn traurig und er machte sich innerlich schwere Vorwürfe, dass er und seine Frau die Kleine in eine solch schreckliche Lage gebracht hatten. Dabei hätte doch alles so schön werden können, ein völliger Neuanfang. „Herr Sacher!“, riss der Leutnant Peter aus seinen Gedanken. „Ja, ich werde aussagen.“ „Gut, dann frage ich sie nun noch ein Mal, weshalb haben sie versucht die DDR illegal und auf eigene Faust zu verlassen? Welche Beweggründe hatten Sie?“ Peter atmete noch einmal tief durch. Dann sprach er: „Es tut mir aufrichtig leid, ich weiß selbst nicht, was in mich gefahren ist. Ich bin immer gerne in der DDR zu Hause gewesen. Zwar gab es gewisse Dinge, die mir nicht gefallen habe, aber nichtsdestotrotz habe ich meine Heimat immer gemocht.“ Kaum hatte er seine Worte vollendet, wusste er nicht einmal mehr selbst, warum er das eben gesagt hatte. Der Gedanke daran seine Tochter zu verlieren, hatte ihn einfach dahin getrieben dem Leutnant genau das zu sagen, was dieser hören wollte. „Nun gut“, sprach der Leutnant, „wieso aber wollten sie unser Land verlassen, wenn sie es doch so gemocht haben? Sie müssen doch ihre Gründe gehabt haben?“ „Ich, ich weiß nicht, wir haben Verwandte im Westen, hatten irgendwie auf einmal das Gefühl zu ihnen zu müssen“, stotterte Peter. „Bereuen Sie, was sie getan haben?“ Peter dachte kurz nach. Er wusste, dass es jetzt keinen anderen Ausweg mehr gab als Reue zu zeigen und so sprach er klar und deutlich: „Ja, es tut mir wirklich aufrichtig leid!“
Triumphierend blickte der Leutnant Peter an, dann ließ er ihn zurück in seine Zelle bringen. Kaum hatte Peter seine Zelle betreten, liefen ihm die ersten Tränen über sein Gesicht. Er ärgerte sich ungeheuerlich, dass man ihn so schnell weich gekocht hatte. Aber der Leutnant hatte solch eine seltsame Wirkung auf ihn, hatte ihn unter Druck gesetzt, so dass er seiner Meinung nicht mehr standhalten konnte und er war sich ja in dem Moment auch irgendwie selbst gar nicht mehr so sicher gewesen, ob die Flucht das Richtige gewesen war.
Es dauerte fast eine ganze Woche, bis Peter wieder in den Vernehmungstrakt geholt wurde. Wieder saß ihm der Leutnant gegenüber, doch dieses Mal wirkte er viel freundlicher. „Wir haben jetzt sowohl sie als auch ihre Frau verhört. Diese hat auch nach einigen Irrungen und Wirrungen zugegeben, dass ihr alles Leid tue und sie zutiefst bereue, unseren Staat verlassen zu wollen. Wir sind froh darüber, dass sie beide erkannt haben, dass sie falsch gehandelt haben. Besser spät, als nie. Sie sind jetzt sicher, dass sie wieder in ihr altes Leben in unserem Staat eingegliedert werden möchten, das sehe ich doch richtig, oder?“ Peter nickte dem Leutnant zu. „Ja, ich möchte möglichst schnell zurück zu meinem Kind und meiner Frau.“ Der Leutnant grinste ihn erneut überlegen an. „Nun mal mit der Ruhe. Die Gerichtsverhandlung findet bald statt. Machen sie sich keine Sorgen um ihre Frau, die ist bei uns in guten Händen und ihrer Tochter geht es auch gut. In den Kinderheimen unseres Landes wird niemandem etwas zu Leide getan wird.“ „Steht schon ein genauer Termin für die Gerichtsverhandlung fest?“, wollte Peter wissen. „Sobald ich ihn kenne, werde ich ihn ihnen unverzüglich mitteilen. Sie müssen sich keine Sorgen machen, man wird ihnen zugute halten, dass sie so schnell erkannt haben, dass sie einen schweren Fehler begangen haben.“
Die Zeit bis zur Gerichtsverhandlung erschien Peter wie eine Ewigkeit. Tag für Tag verbrachte er in seiner kleinen Zelle. Die einzige Abwechslung bestand darin, dass er sich mal sitzend am Tisch, mal liegend auf dem Bett aufhielt. Peter dachte in den Wochen bis zur Gerichtsverhandlung viel darüber nach, wie es weitergehen sollte, wenn sie wieder draußen aus dem Gefängnis waren. Er hatte Angst davor, dass seine Frau Anna ihm vielleicht
Vorwürfe machen könnte, dass er so schnell klein beigegeben und Reue gezeigt hatte. Überhaupt hatte er keine Ahnung wie die Zukunft aussehen sollte. Sie hatten beide keine Arbeit mehr, wovon sollten sie denn leben. Wie sollten sie denn nun auf einmal mit den sozialistischen Erziehungsmethoden klar kommen, unter denen auch ihre Tochter in der Schule zu leiden hatte.
Im Gerichtssaal trafen Peter und seine Frau Anna zum ersten Mal nach Wochen wieder aufeinander. Nach einem über zweistündigen Prozess wurden sie schließlich freigesprochen. Glücklich umarmte sich das Ehepaar. Beide waren für einen kurzen Moment so unendlich glücklich wieder beisammen zu sein.
Als sie dann kurze Zeit später auch bereits ihre Tochter in die Arme schließen duften, schien ihr Glück zunächst perfekt.
Dann ging es wieder zurück in das alte Leben. Anna bekam einen anderen Arbeitsplatz in ihrer Firma angeboten. Zunächst freuten sich beide, dachten, dass es vielleicht doch nicht das Schlechteste gewesen war, in der DDR zu bleiben.
Doch schnell kristallisierte sich heraus, dass Anna mit ihrer Arbeit nicht glücklich war. Immer wieder musste sie sich im Betrieb anhören, dass sie in die Partei eintreten sollte und dass man ihr sonst nur schwer vertrauen könnte. Anna weigerte sich hartnäckig. Tapfer ging sie jeden Tag an ihren Arbeitsplatz, aber Peter sah seiner Frau an, dass es ihr von Stunde zu Stunde schlechter ging. Zu Hause war sie unausgeglichen und genervt. Immer wieder ließ seine Frau ihre schlechte Laune an ihm oder der gemeinsamen Tochter aus. Zusehends machte sie ihm Vorwürfe, dass er in den Verhören zu schnell klein bei gegeben hätte und ihr folglich keine andere Wahl mehr geblieben war, als auch Reue zu zeigen. Anna sehnte sich nach ihren Eltern und der Schwester im Westen.
Peter konnte die Frustration seiner Frau zwar nachvollziehen, dennoch hoffte er von Tag zu Tag, dass sie sich aussprechen könnten und dass sie einsehen würde, dass sie nicht ihm allein die Schuld für die misslungene Flucht geben konnte. Anna und Peter distanzierten sich aber zunehmend weiter voneinander. Abends, wenn sie mit Tochter im Wohnzimmer saßen, schwiegen sie einander an. Wenn gesprochen wurde, machte man sich gegenseitig Vorwürfe. Immer wieder versuchte Peter einzulenken. Er wollte doch wenigstens der Tochter zu liebe alles dafür tun, dass sie wieder eine harmonische Familie wurden……
Eines Tages kam Anna früher als sonst von der Arbeit. Peter sah ihr sofort an, dass dieses Mal etwas anders war, als sonst. „Ist etwas passiert, warum bist du schon jetzt hier?“, wollte er von seiner Frau wissen, als diese in die Küche trat. Anna setzte sich an den Tisch und schaute ihren Mann nachdenklich an. Zögernd begann sie zu sprechen: „Ich, ich muss dir etwas sagen. Ich habe eine Entscheidung getroffen. Ich hatte heute meinen letzten Arbeitstag. Ich werde nicht mehr dahin zurückkehren. Ich kann so nicht mehr leben, es geht einfach nicht mehr. Ein Tag ist schlimmer als der andere.“ Dann wiederholte sie einen ihrer Sätze noch einmal: „Ich habe eine Entscheidung getroffen!“ Auf einmal wusste Peter ganz genau, was seine Frau meinte. Dafür kannten sie einander lange genug. Er zuckte innerlich zusammen und klopfte unruhig auf den Tisch. Anna stand auf, umarmte ihn ein letztes Mal. Dann ging sie hinüber ins Schlafzimmer, packte einen kleinen Rucksack zusammen. Peter beobachtete seine Frau durch die geöffnete
Küchentür ganz genau. Aus ihrem Nachtisch nahm sie ein kleines Fotoalbum und legte es in den Rucksack. Dann ging sie hinüber ins Kinderzimmer und schaute eine ganze Weile der Tochter lächelnd beim Spielen zu. Irgendwann ging sie zu ihr, umarmte das kleine unwissende Mädchen und hauchte ihr ein „Ich hab dich ganz doll lieb!“, ins Ohr. Dann ließ sie ihre Tochter los, ging zurück in den Flur und öffnete die Haustür. „Anna, bitte, Anna!“, rief er immer wieder. Sie atmete ein letztes Mal kräftig durch, warf ihrem Mann einen letzen entschuldigenden Blick zu, dann machte sie einen Schritt über die Türschwelle und war aus Peters Blickfeld verschwunden. Er rannte ihr nach, schüttelte sie, flüsterte ihr immer wieder eindringlich zu: „Tu es nicht, bitte.“ Doch Anna riss sich los und rannte die Treppenstufen des Mehrfamilienhauses hinunter.
Tränen liefen Peter übers Gesicht. Er konnte seine Frau nicht verstehen. Ihm war unbegreiflich, dass sie ein weiteres Mal versuchen wollte zu fliehen. Er wollte sich gar nicht ausmahlen, was passieren würde, wenn man sie wieder fassen würde. „Ich hätte sie nicht aufhalten können, sie war fest entschlossen zu gehen, auch ohne die Kleine“, dachte er. Fassungslos und schockiert stand Peter auf, ging hinüber ins Kinderzimmer zu seiner Tochter. Er wischte sich die Tränen aus den Augen und lächelte ihr zu. Er musste jetzt stark sein und in die Zukunft blicken. Das war er seiner Tochter schuldig.