Plötzlich allein
Die Sonne schien warm vom Himmel. Katja lehnte sich gemütlich auf der Parkbank zurück und krempelte die langen Hosenbeine ein wenig auf. Sie blickte hinüber zu ihrer Tochter und lächelte ihr zu. „Wie süß sie doch ist, wie schön sie spielt“, dachte sie.
Laureen war gerade dabei gemeinsam mit zwei anderen kleinen Mädchen eine riesige Burg in der Sandkiste zu bauen. Eifrig klopfte sie mit ihren kleinen Händchen den Sand fest. Dann stand sie auf und lief über den
ganzen Spielplatz hinüber zur Schaukel. Katja blickte ihr verträumt nach. Sie hatte sich schon die ganze Zeit gewundert, mit welcher Geduld und Ausdauer ihre Kleine die große Sandburg gebaut hatte. Laureen war nämlich ein sehr munteres, aufgewecktes Kind, dem eine Sache schnell zu langweilig wurde und das ständig etwas anderes tun wollte. Nun stand Laureen vor dem Schaukelgerüst. „Mami, Mami!“, rief sie und blickte erwartungsvoll hinüber zur Parkbank. Katja stand auf und ging zu ihrer Tochter. Dann gab sie ihr ganz viel Anschwung, genau so, wie Laureen es mochte. Laureen juchzte vor Freude. „Mehr, mehr!“, rief sie immer wieder. „Ich bin fast in den Wolken, ich fliege Mami, ich fliege!“ Katja lachte mit ihrer Kleinen, die gute Laune steckte sie förmlich an und sie genoss den sonnigen Tagen in vollen Zügen. Nach einiger Zeit hatte Laureen keine Lust mehr zum Schaukeln.
Katja und ihre Tochter machten sich auf den Weg in die Eisdiele. Bei den heißen Temperaturen, brauchten sie unbedingt noch eine kleine Abkühlung.
Es war kurz vor sechs, als Katja die Wohnungstür aufschloss. „Laureen, zieh bitte draußen deine Schuhe aus, die sind ganz sandig!“, mahnte sie ihre Kleine. Dann gingen sie hinein in die Wohnung hinüber in die Küche. Während Laureen am Küchentisch eifrig damit begann ein Bild zu malen, bereitete Katja das Abendbrot vor. Plötzlich fiel ihr ein, dass sie an diesem Tag noch gar nicht den Briefkasten ausgenommen hatte. Sie ging in den Flur, zog die oberste Schublade ihrer hölzernen Kommode auf und griff nach dem kleinen Schlüssel. Dann ging sie zum Postkasten und öffnete ihn.
Zahlreiche Reklameprospekte fielen ihr in die Hände. Während Katja die Treppe zu ihrer Wohnungstür wieder hinauflief, warf sie bereits einen kurzen Blick auf einige Werbungsblätter. Plötzlich rutschte ein Brief aus dem Packen mit Zetteln hinaus und fiel ihr vor die Füße. Sie bückte sich und nahm den
weißen Umschlag auf. Sofort fiel ihr der Absender ins Auge. Sie wurde nervös. Ihre Hände begannen zu zittern und das Blut schoss ihr in den Kopf. In der Wohnung angelangt, warf sie einen kurzen Blick hinüber in die Küche, um sich zu vergewissern, dass Laureen immer noch artig am Tisch saß und malte. Dann ging sie hinüber ins Wohnzimmer und ließ sich auf das große Ecksofa fallen. Sie atmete tief durch. Heute war einer der ersten Tage in dieser Woche gewesen, wo sie nicht an den Brief gedacht hatte. Sie hatte versucht sich abzulenken, hatte den Tag genossen. Ihr Herz schlug immer schneller. Nervös begann sie auf ihren Fingernägeln zu kauen. Sie hatte wahnsinnige Angst den Brief zu öffnen. Sie wusste, dass in wenigen Sekunden alles anders sein könnte. „Bitte, bitte, bitte!“, flüsterte sie vor sich hin und drückte den Briefumschlag ganz fest an ihr Herz.
Dann riss sie den Umschlag auf und blickte auf das maschinell geschriebene Schreiben. Sie war unendlich nervös, viel zu nervös, um zu lesen. „Sehr
geehrte Frau Manzinger!“, begann das Schreiben. Sie blickte auf die Mitte des Briefbogens, was interessierten sie diese allgemeinen Redewendungen, diese Höflichkeitsfloskeln. Sie wollte es jetzt wissen, es schwarz auf weiß lesen, sie hielt diese Unsicherheit nicht mehr aus. Dann fiel ihr die Stelle ins Auge. Ungläubig starrte sie auf die Wörter. „Nein, nein!“, wimmerte sie. Tränen standen ihr in den Augen. Wie ein Häufchen Elend kauerte sie sich auf dem Sofa zusammen und weinte. Sie vergaß alles um sich herum, schluchzte einfach so vor sich hin und blickte ins Leere. Plötzlich stand ihre Tochter vor ihr. „Mami, Mami, was ist denn? Wo bleibst du. Ich hab Hunger!“ Katja schaute ihre Tochter an. . In dem Moment begann ihr Herz noch schneller zu rasen. Sie wusste, dass sie sich jetzt zusammenreißen musste, es gab keine andere Möglichkeit. „Ich komm ja schon, ich bin gleich da“, beruhigte sie die Kleine. Dann stand sie auf, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und strich ihrer Tochter sanft über die langen weichen Haare.
Laureen aß eifrig ihr Butterbrot und löffelte anschließend noch einen Erdbeerjoghurt aus. Katja schaute ihr zu, strich ihr immer wieder liebevoll über ihr kleines Gesicht. Sie selbst konnte nichts essen, ihr war unendlich schlecht. Sie hatte auch ohne etwas gegessen zu haben, bereits das Gefühl, dass sie sich gleich übergeben musste. Plötzlich klingelte das Telefon. „Mami, ich geh!“, rief die Kleine aufgeweckt. Dann sprang sie auf und rannte in den Flur zum Telefon. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie mit dem Hörer in der Hand zurück in die Küche trat. „Mama“, sagte sie, „Papa ist am Telefon. Er will dich auch noch mal sprechen.“ Katja stand auf. Sie hatte befürchtet, dass er sie heute noch anrufen würde. Sie nahm Laureen den Hörer aus der Hand und ging hinüber ins Wohnzimmer. Sie wollte auf gar keinen Fall, dass die Kleine das Gespräch mitbekam. Sie war so wütend und wusste, dass sie kaum in der Lage sein würde, normal, sachlich mit ihm zu reden. Trotzdem wollte sie es versuchen, sie wusste, dass es zu spät war, dass alles andere keinen Sinn hatte. „Ja!“, meldete sie sich und wartete darauf, dass er nun etwas sagen würde. „Hast du das Schreiben, den richterlichen Beschluss bekommen?“, waren seine ersten Worte, die ihr unmittelbar einen Stich ins Herz versetzten. In ihren Gedanken sah sie ihn jetzt vor sich. Sie wusste, dass er in diesem Moment ein breites überlegenes Grinsen im Gesicht haben würde. Der Gedanke daran stimmte sie noch unglücklicher. Sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Ihr schien das ganze Telefongespräch so unendlich überflüssig. Plötzlich hatte sie sich nicht mehr unter Kontrolle. „Was willst du? Was willst du noch? Du hast doch alles, was du wolltest! Musst du mich jetzt noch so quälen???“, schrie sie ins Telefon. Zeitgleich begann sie so bitterlich zu weinen, dass ihre Worte kaum noch zu verstehen waren. „Katja, nun lass uns doch wie erwachsene Menschen miteinander reden, wenigstens der Kleinen zuliebe!“ Sie hasste es, wenn er so belehrend, von oben herab mit ihr sprach. Er sollte doch einfach seinen Mund halten, sollte sie in Ruhe lassen. Sie konnte und wollte seine Stimme jetzt nicht hören. „Ich, ich wollte dir eigentlich nur sagen, dass ich Laureen morgen früh abholen kommen werde. Ich habe mir frei genommen. Nur damit du Bescheid weißt!“, sprach er weiter. „Stephan bitte, bitte lass mir doch die Kleine, bitte, bitte…“, wimmerte sie immer wieder. „Du kannst mir doch nicht einfach so die Kleine wegnehmen. Sie braucht doch ihre Mutter.“ „Was heißt denn einfach so?“, fuhr er sie wütend an. „Du weißt doch, dass das ein langer Weg war. Die Kleine gehört genauso zu mir und du weißt doch, dass sie es bei mir gut haben wird. Ich kann ihr alles bieten.“ Sie knallte den Telefonhörer wütend auf den Boden und wälzte sich schluchzend auf dem Sofa umher. „Laureen, Laureen“, wimmerte sie immer wieder vor sich hin. Auch wenn sie irgendwie befürchtet hatte, dass es so kommen könnte, sie hatte es verdrängt, hatte immer wieder die Hoffnung gehabt, dass doch noch alles gut werden würde. Aber wie waren auch ihre Chancen gewesen: Sie, eine arbeitslose, junge, allein stehende Mutter. Er, Juniorchef, mittlerweile wieder glücklich verheiratet, wohlhabend, im besten Alter und was das Entscheidende war, er hatte die
besten Kontakte, den besten aller Anwälte. Wie unfair das Leben, die Welt doch ist! Ich hab die Kleine doch so unendlich doll lieb, sie hat es doch so gut bei mir, dachte sie. Der Gedanke daran, dass sie morgen ganz alleine sein würde, schien ihr unerträglich. Sie wusste, dass sie sich jetzt noch einmal zusammenreißen musste, wenigstens für diesen Abend, ihrer Tochter zuliebe. Sie ging zurück zu Laureen in die Küche. „Wollen wir etwas spielen?“, fragte sie die Kleine. Dann gingen sie hinüber ins Kinderzimmer und sie spielten eine ganze Weile zahlreiche unterschiedliche Gesellschaftsspiele. Katja genoss es das fröhliche unbeschwerte Lachen ihrer Tochter zu hören. Irgendwann wurde die Kleine wahnsinnig müde. Katja wusste, dass es schon viel zu spät war, aber sie hatte die letzten Stunden mit ihrer Tochter ausnutzen wollen. An diesem Abend durfte Laureen mit bei ihr im Bett
schlafen. Katja lag die ganze Nacht wach und blickte ihre friedlich schlafende Tochter an. Noch war ihr gar nicht so wirklich bewusst, dass am kommenden Morgen nichts mehr so sein würde, wie früher.
Es war am nächsten Morgen gegen 10 Uhr, als es an der Tür klingelte. Laureen stürmte zur Tür und öffnete. „Papa, Papa!“, rief sie. Stephan hob die Kleine auf seinen Arm und lächelte ihr zu. Dann trat er in die Wohnung. „Katja, guten Morgen. Hast du ein paar Sachen zusammengepackt?“ Katja blickte ihn hasserfüllt und vernichtend an. Wieder standen ihr Tränen in den Augen. Stephan ging gemeinsam mit Laureen hinüber ins Kinderzimmer und kramte einige Dinge zusammen. „Das genügt erstmal!“, sprach er. „Nun schau doch nicht so traurig. Sie ist doch auch meine Tochter. Ich will doch nur das Beste für sie. Du kannst sie jeder Zeit sehen, etwas mit ihr unternehmen, aber wohnen wird sie nun mal ab sofort
bei mir. Das steht doch auch so im richterlichen Beschluss.“ Mit diesen Worten verabschiedete Stephan sich. Katja umarmte ihre Tochter noch einmal ganz fest, gab ihr einen Kuss und streichelte ihr übers Gesicht.
Dann fiel die Tür hinter Stephan und Laureen ins Schloss.