Mittwoch, 18. Januar 2006

Die Geschichte der Philosophie und Pädagogik

Zerplatzte Träume

Zusammengekauert saß sie am kräftig lodernden Kamin und blätterte im Fotoalbum, das auf ihren Knien lag. Nach und nach riss sie jedes Foto aus Kamindem Album, zerriss es in Hunderte von Einzelteile, warf die Fotofetzen ins Feuer und schaute zu, wie die Einzelteile in Windeseile verglühten. Einige der Fotos betrachte sie eine fotobuchganze Weile, bevor sie sie zerriss. Sie dachte zurück an alles, was damals gewesen war, an all die schönen Momente, die so schnell, so plötzlich und unerwartet vorübergegangen waren. Sie war ganz in ihre Gedanken vertieft, nahm das wiederholte Klingeln an der Tür nun schon beinahe gar nicht mehr wahr. Sie wollte ungestört und alleine sein. Das hatte sie ihren Eltern und Freunden auch gesagt. Sie erinnerte sich an ein Gedicht von Andreas Gryphius, dass sie vor einiger Zeit in einem Gedichtsband gelesen hatte, den sie im Wohnzimmer der Eltern hatte stehen sehen. „Was jetztund prächtig blüht, soll bald zertreten werden, was jetzt so pocht und trotzt , ist morgen Asch und Bein. Nichts ist, das ewig sei, kein Erz, kein Marmorstein. Jetzt lacht das Glück uns an, bald donnern die Beschwerden.“
Plötzlich empfand sie das Gedicht so passend zu ihrer Situation, zu ihrem Schicksal. Tränen liefen ihr über das Gesicht. Sie wollte nicht wieder weinen, das hatte sie schon den ganzen Nachmittag getan. Sie wusste, dass es keinen Sinn hatte. Sie wollte stark sein, sich durchkämpfen, die Situation mit Fassung tragen. Sie stand auf und ging hinüber in die Küche. Sie wollte sich ein Glas Wasser holen. Sie nahm die Flasche aus dem Kühlschrank, dann öffnete sie den Schrank mit den Gläsern und nahm sich ein Wasserglas heraus. Ihr Blick richtete sich sofort auf die zahlreichen Weingläser, die auf dem oberen Bord im Schrank standen. Sie starrte die Gläser hasserfüllt an, die Aggression in ihr steigerte sich immer weiter und obwohl sie sich vorgenommen hatte, die Situation mit Fassung zu tragen, konnte sie nicht anders, als ein Glas nach dem anderen auf die Steinfließen fallen zu lassen. Die Gläser zersprangen in viele einzelne Scherben. In dem Moment, als das letzte Glas zu Boden fiel, vernahm sie die Stimme ihrer Schwester: „Laura, nun mach doch bitte die Tür auf! Was machst du denn da drin? Ist dir was passiert?“ Laura antworte nicht.
Sie nahm die Wasserflasche, ging zurück ins Wohnzimmer, setzte sich vor den Kamin, zerriss einige weitere Bilder und ließ sie in die Flammen fallen. Plötzlich vernahm sie ein Klopfen am Wohnzimmerfenster. Sie drehte sich um und blickte in die Augen ihrer Mutter und Schwester. „Ich will jetzt niemanden sehen! Könnt ihr mich nicht endlich in Ruhe lassen“, schrie sie, sprang wutentbrannt auf, lief zum Fenster und ließ in Windeseile die Außenjalousie hinunter. Dann ließ sie sich wieder vor den Kamin fallen. Sie wusste selbst nicht, was in sie gefahren war, was sie gerade tat. Sie stand vollkommen neben sich, konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Sie wollte ihre Familie und Freunde nicht verletzen, sie wusste, dass sie ihr nur helfen, ihr in dieser schweren Situation beistehen wollten. Aber sie fühlte sich schuldig, machte sich selbst Vorwürfe, dass sie nicht auf all die Mahnungen und Ratschläge gehört hatte, die ihre Eltern und Geschwister ihr in den letzten Wochen und Monaten unterbreitetet hatten. „Denk noch mal gut darüber nach. Du verrennst dich da in was. Du machst einen großen Fehler. Wir wollen doch nur das Beste für dich!“, hatten alle immer wieder gesagt. Laura hatte das alles nicht hören wollen, hatte immer wieder betont, dass sie mit ihren fast 30 ja wohl wissen würde, was gut für sie sei und dass ihre Eltern und jüngeren Geschwister ihr nicht reinreden sollten. Jeder sollte sich doch um sein Leben kümmern. Wie oft hatte sie sich in der letzten Zeit mit den Menschen gestritten, die ihr nah standen, die ihr eigentlich so wichtig waren. Sie fühlte sich schuldig und schämte sich dafür, dass sie sämtliche Ratschläge missachtet hatte, nur weil sie immer „ihn“ verteidigen hatte wollen. Aber sie hatte ihm ja auch vertraut, hatte ihn geliebt, hätte alles für ihn getan.
Sie stand auf und griff nach einem Familienbild, das auf dem Regal stand. Sie betrachtete ihre Mutter, ihren Vater, den jüngeren Bruder und die jüngere Schwester. „Wie recht sie doch alle hatten“, dachte sie, drückte das Bild ganz fest an sich und schluchzte. Sie griff nach dem Pralinenkasten, der auf dem kleinen Tisch neben dem Kamin stand und Pralinensteckte sich eine Praline in den Mund, dann noch eine und eine weitere. Als sie den Kasten nach einiger Zeit zurückstellen wollte, fiel ihr auf, dass sie sich ihren beigen Hosenanzug mit Nussnugatcreme eingeschmiert hatte. Sie starrte auf den Fleck auf der hellen Jacke. „Gut so“, dachte sie, den brauch ich ja eh nicht mehr.“. Sie zog die Jacke aus und warf sie auf den Boden. Sie dachte zurück an die vergangene Woche, als sie mit Mutter und Schwester in der Stadt gewesen war, um sich etwas Passendes zum Anziehen auszusuchen. Es war gar nicht so einfach gewesen. Mindestens 30 unterschiedliche Hosenanzüge und unzählige Kleider hatte sie anprobiert, bevor sie sich schließlich für den einen entschieden hatte. Es sollte eben alles zu Hundertprozent perfekt sein an diesem besonderen einmaligen Tag. Sie dachte an all die Vorbereitungen in den vergangenen Wochen und Monaten und wusste nicht, ob sie weinen oder lachen sollte. Die Situation war so unendlich absurd. Schlimmer hätte es doch alles gar nicht laufen können. Wie viel Mühe sie sich alleine bei der Auswahl des Menüs und der Tischdekoration gegeben hatte. Und dann die Einladungskarten. Sie hatte so lange an der Optik herumgefeilt und ewig überlegt, wer denn alles eingeladen werden müsste. Es sollte ja auch niemand vergessen werden. Sie hatte sich so unendlich viel Mühe bei all den Vorbereitungen gegeben, hatte beinahe alles alleine gemacht. Er hatte wenig Zeit gehabt, „Stress bei der Arbeit“ hatte er immer entschuldigend gesagt und sie alles alleine machen lassen. Sie war so naiv und blöd gewesen und hatte ihm auch noch geglaubt, ihm blind vertraut, in allem, was er gesagt und getan hatte.
Voller Schmerz und Hass dachte sie zurück an den Morgen. Es hatte eigentlich alles ganz schön angefangen. Stundenlang hatte sie sich zurechtgemacht, hatte ewig überlegt, ob sie wirklich das neue Paillettentop anziehen sollte oder doch lieber das schlichte schwarze. Dann hatte sie mit der Hilfe ihrer Schwester eine Ewigkeit lang eine Hochsteckfrisur gemacht, so wie er sie gerne mochte.
Später waren sie alle gemeinsam ins Standesamt gefahren. Seine Eltern, seine Freunde, ihre Familie und ihre Freunde. Ihre beste Freundin war sogar aus Madrid angereist, wo sie seit einiger Zeit mit Mann und Kind lebte. Selbst ihre Eltern hatten am Morgen nichts mehr von all den Streitigkeiten der vergangenen Wochen erwähnt, sie hatten auf dem Hinweg im Auto sogar gesagt, dass sie ihr Glück akzeptieren würden und dass sie sich mit ihr freuten. Alles hätte so schön werden können. Sie war so unendlich glücklich gewesen, als sie da neben ihm vor dem Standesbeamten stand und dann hatte er auf die Frage „Möchten Sie Jan Weber, die hier anwesende Laura Müller heiraten, dann antworten Sie bitte mit ja, ich will“, Herzeinfach „nein“ gesagt. Es hatte eine Weile gedauert, bis die Antwort kam. Sie hatte ihn schon ganz unruhig angesehen, ihn angetickt und dann, dann hatte er einfach gesagt: „Nein, es tut mir leid, ich kann nicht!“ Zuerst dachte sie, sie hätte sich verhört. Aber als sie in seine Augen blickte, wurde ihr klar, dass sie schon ganz richtig verstanden hatte, was er da eben gesagt hatte. Obwohl sie sich nicht zu den Gästen umgedreht hatte, hatte Laura gemerkt, welch Unruhe unter den Anwesenden entstanden war. Der Standesbeamte schaute irritiert und mitleidig in die Runde. Vermutlich hatte er selbst noch nie eine solch absurde Situation erlebt. Sie hatte sich hintergangen und gedemütigt gefühlt. Dann hatte Jan sie zur Seite gezogen: „Es tut mir leid“, sagte er, „ich dachte es wäre richtig dich zu heiraten, aber ich liebe eine andere. Ich kann das einfach nicht. Es tut mir leid!“. Sie hatte ihn ungläubig angeblickt, dann war sie nach draußen ins Freie gerannt, ins Auto gestiegen und so schnell sie konnte nach Hause gefahren, ohne den anderen die Möglichkeit zu geben, sie aufzuhalten………
Laura zerriss das letzte Bild aus dem Album und ließ es in die lodernden ringFlammen fallen. Dann zog sie den Verlobungsring vom Finger und warf ihn hinterher in den Kamin. Sie wollte nun nicht länger alleine sein. Plötzlich verspürte sie das Gefühl mit jemandem reden zu müssen. Sie wusste, dass die Menschen, die ihr wahnsinnig viel bedeuteten und denen sie wichtig war, noch immer vor dem Haus stehen würden, obwohl bereits Stunden vergangen waren. Sie stand auf, ging zur Haustür, öffnete und stürze in die Arme ihrer Mutter, die liebevoll über ihren Rücken streichelten.

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